Einer der bedeutendsten Felder gewerkschaftlicher Kämpfe war und bleibt die Auseinandersetzung um die Arbeitszeit. Vor allem aus emanzipatorischer Perspektive darf der Wert der Lebenszeit, welche der Arbeitszeit stets abgetrotzt werden musste, und deren Preisgabe durch ein paar Prozente mehr Lohn nicht immer ausgeglichen werden kann, nicht unterschätzt werden. Der Kampf um die Arbeitszeitverkürzung, weg von 12-14 Stunden, hin zum 10 Stunden, schließlich 8 Stunden Tag, war einer der großen, entscheidenden Erfolge der historischen Arbeiter*Innen- und Gewerkschaftsbewegung in Europa.1 Die letzte größere politische Auseinandersetzung, die in Deutschland von Gewerkschaften einigermaßen flächendeckend und für hiesige Verhältnisse durchaus kämpferisch vorangetrieben wurde, war jene um die Einführung der 35 Stunden Woche in den 1980er Jahren, was leider nur teilweise gelang und mittlerweile allerorts zurückgenommen oder aufgeweicht wurde.
Und natürlich bleibt auch für eine anarchisch-syndikalistische Gewerkschaft wie die FAU, die Frage wieviel Geld am Ende des Monats, oder Monat am Ende des Geldes noch übrig ist, von großer Wichtigkeit. Aber wieviel Tag am Ende der Arbeit bleibt, wieviel Erholungszeit, wieviel Zeit für die nach wie vor hauptsächlich unbezahlt zu verrichtende Care-Arbeit, wieviel Zeit, um einigermaßen selbstbestimmt Mensch sein zu können, bleibt der Dreh- und Angelpunkt im Konflikt zwischen den Fraktionen von Arbeit und Kapital, solange diese als die antagonistischen Klammern unserer Gesellschaft Bestand haben.
Blickt man sich dieser Tage so um, dann zeigt sich eine ungute Vorahnung dessen, in welche Richtung der Dampfer getauft Deutschland diesbezüglich Fahrt aufzunehmen versucht. Zumindest wenn man die sogenannten politischen Verantwortungsträger*Innen in Bund und Ländern befragt. Bereits der Koalitionsvertrag der Bundesregierung spricht von sogenannten „Experimentierräumen“ „...hinsichtlich der Tages-Höchstarbeitszeit“, die aktuell noch bei 10 Stunden am Tag liegt.2 Das könnte sich alsbald ändern, und auf bis zu 13 Stunden am Tag ansteigen, das zurzeit nach EU-Recht gültige Höchstmaß. Zur gleichen Zeit entblödet sich Niedersachsens Landesregierung nicht, die Personalengpässe im Gesundheitsbereich und den dort anfallenden, Pandemie bedingten dauerhaften Mehrbedarf an Arbeitsleistung, durch die verfügte Einführung der 60 Stunden Woche und des 12 Stunden Tages lösen zu wollen.3 Unterbesetzte und überarbeitete Pflegekräfte sollen also darin Entlastung finden, dass sie nun ganz offiziell 60 Stunden aufwärts die Woche arbeiten dürfen, anstatt dies nur faktisch zu tun um dabei Überstunde um Überstunde anzuhäufen.
Die gesundheitlich negativen Auswirkungen bis hin zu erhöhter Sterblichkeit, als auch das Absinken der Leistungsfähigkeit mit massivem Anstieg der Fehler- und Unfallanfälligkeit bei steigender Arbeitszeit, ist in zahlreichen Studien belegt, so auch in der neusten Erhebung zum Thema von ILO und WHO 2021.4 Doch bloße wissenschaftliche Erkenntnis scheint kein hinreichender Gradmesser für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen hierzulande. Stattdessen scheinen altbackende Ressentiments und kurzsichtige Profitsucht die einzig geltenden Leitplanken zu bilden.
Die FAU kann sinnhafter Weise nur in die entgegengesetzte Richtung weisen und sowohl gegen eine Ausweitung der Arbeitszeiten - und stattdessen für eine radikale Verkürzung der durchschnittlichen Arbeitszeit streiten. Initiativen wie die 4- Stunden-Liga, welche aus vielen guten Gründen die Einführung des 4-Stunden Arbeitstages, bei vollen Lohn- und Personalausgleich fordern, sind von emanzipatorischer Seite solidarisch zu unterstützen.5 Weder die Zukunft des Arbeitsmarktes, Stichwort Digitalisierung, Automatisierung, noch grundlegende Fragen nach gesellschaftlicher Teilhabe und ökonomischer Verteilungsgerechtigkeit, geben es her, den einstmals beschrittenen Weg der Arbeitszeitverkürzung zu verlassen. Von der ökologisch notwendigen Abkehr von einem stetig den Output steigernden Produktionszwang mal ganz abgesehen. Eine einseitig Arbeitgeber*Innen begünstigenden Flexibilisierung der Arbeitszeiten, gilt es folgerichtig abzulehnen. Nicht erst eine, wo auch immer zu verortende, Zukunft braucht weniger, statt mehr Arbeit, sondern bereits die Gegenwartsgesellschaft, das Heute, hier und jetzt! Unsere Gesundheit, unser Planet, unser Lebensglück verlangen danach.
1 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1126144/umfrage/woechentliche-arbeitszeit-in-deutschland/
2 https://www.tagesspiegel.de/downloads/27829944/1/koalitionsvertrag-ampel-2021-2025.pdf
3 https://taz.de/Arbeitszeitgesetz-in-Niedersachsen/!5825367ßs=/
4 https://www.ilo.org/berlin/presseinformationen/WCMS_792098/lang--de/index.htm
5 https://4hour-1eague.org/