Lange Zeit galt Arbeitslosigkeit ausschließlich als die unleidliche Ausnahme von der gesetzten Norm namens Erwerbsarbeit. Klar vom arbeitslosen Einkommen der Vermögenden zu unterscheiden, zeichnet sich die allgemeine Arbeitslosigkeit meist durch prekäre finanzielle und soziale Lebensumstände, bis hin zu tiefer Armut aus, früher und anderswo sogar mit Hunger und Überlebenskampf verbunden. Was jedoch vor 100 Jahren noch als quasi natur-katastrophales Unglück daher kam, entwickelte sich spätestens in den letzten 30-40 Jahren zu einem Scham beladenen Individualversagen, im Zweifelsfall selbstverschuldet, vorsichtshalber versteckt und verschwiegen, still erlitten, im Ideal noch von einer von Schuldgefühlen durchtränkten Dankbarkeit gegenüber dem Staat und der Gemeinschaft der Erwerbstätigen begleitet. Denn diese lassen in ihrer Großzügigkeit die ausgesonderten Taugenichtse nicht mehr hungern, wie es Bibelverse, oder wahlweise Franz Müntefering (SPD) nahelegten: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“.1 So hart ist der moderne Sozialstaat gar nicht, nicht einmal nach den 2003 verbrochenen Hartz-IV Reformen. Essen sollen sie ruhig, Wohnen auch, wenn es unbedingt sein muss, aber dann ist irgendwann auch mal gut. Man muss es mit dem Sozialen im Staat auch nicht übertreiben. Tabak, Alkohol und Schnittblumen geziehmen sich für sogenannte Langzeitarbeitslose schon nicht mehr. Diese Luxusgüter wurden konsequenterweise, neben ein paar anderen Konsumartikel, aus der Berechnungsgrundlage für den Hartz-IV Regelbedarf herausgerechnet. Und 1,62 EUR im Monat für Selbstbildung, sprich Bücher, Zeitung und VHS-Kurse, müssen halt auch reichen.2
Überhaupt ist allgemein bekannt, dass die meisten Arbeitslosen ja auch nur zu bequem sind. Würden sie wirklich wollen, würden sie auch Arbeit finden. Schlecht bezahlt und unter beschissenen Bedingungen vielleicht, aber Arbeit immerhin. Frei nach dem Motto: „Arbeit macht das Leben — aus.“ Etwas schief an diesem Bild der faulen Arbeitslosen, welches gefährlich unangenehm an das Bild des „Asozialen“ im faschistischen Deutschland seinerzeit erinnert, hängt allein die mathematische Realität des deutschen Arbeitsmarktes. Auf jede freie Stelle kommen hierzulande 3-4 Arbeitslose und sogenannte Unterbeschäftigte — Menschen, die in Teilzeit arbeiten und nicht vom Lohn ihrer Arbeit leben können.3Doch das scheinen alles vernachlässigbare Details zu sein, ähnlich wie der verstörend überraschende Umstand, dass eine Bürokraft keine Dächer decken, oder ein Metallbauer plötzlich Software entwickeln kann, weil ihnen plötzlich die bezahlte Arbeit abhanden gekommen ist. Alles unnütze Fakten, die den gefühlten Wahrheiten einer angeblichen Leistungsgesellschaft nichts wirklich anhaben können. Dabei ist die sogenannte Massenarbeitslosigkeit schon lange ein soziologisches Dauerphänomen in den meisten industrialisierten und post-industriellen Gesellschaften, und dies mit steigender Tendenz — Stichwort Digitalisierung und Automatisierung. Daher bedarf es offensichtlich eines grundverschiedenen Ansatzes, als jenen der Bloßstellung und Abstrafung.
Eine Gelegenheit dem Thema Arbeitslosigkeit auf andere Art zu begegnen, ist der seit 2004 als Kampf-und Feiertag der Arbeitslosen begangene 02.Mai. Ganz bewusst dem 1.Mai als traditionellen Kampftag der Arbeiter*innen direkt folgend, nicht als Gegenentwurf, sondern als notwendige Erweiterung der Perspektive einer vereinten Arbeiter*innen-Klasse und ihrer Kämpfe um das Los, die Stimmen und die Widerstandsformen der von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen und jenen, die ihnen solidarisch zur Seite stehen. Denn Lohnarbeit und organisierte Armut in der Arbeitslosigkeit sind zwei Seiten der selben Ausbeutungsverhältnisse, von denen die Mehrheit der Menschen betroffen sind. Entsprechend laut und sichtbar, solidarisch und kämpferisch will der 02. Mai begangen werden.
1 Franz Müntefering rezitiert den 2. Tessalonichen Brief des Paulus
2 https://www.lpb-bw.de/regelsatz-hartziv#c54427
3 https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Home/home_node.html