Letzten Freitag, am 16. Oktober, hat die angekündigte Veranstaltung zu „Organisation im Lieferdienst“ stattgefunden.
Wir freuen uns und danken noch einmal Orry Mittenmayer und Walid Ibrahim, dass sie trotz der durch COVID 19 erschwerten Bedingungen gekommen sind.
Orry Mittenmayer, Aktivist der Kampagne “Liefern am Limit”, hat eine praktische Anleitung zu der Organisation von Arbeitnehmer*innen im Lieferservice gegeben.
Theoretisch untermauert wurde sein Erfahrungsbericht durch Walid Ibrahim, Arbeits- und Wirtschaftssoziologe an der Universität Jena, der sich mit der Digitalisierung von Arbeit, Plattformökonomie und den daraus folgenden Arbeitsbedingungen beschäftigt.
Für all die Menschen, die gerne ebenfalls gekommen wären, folgt hier ein kurzer Abriss zu den in der Veranstaltung vorgestellten Themen.
Wenn ihr noch mehr Interesse zu dem Thema habt, etwas wiedererkennt, selber berichten oder auch einfach nur eurem Frust Luft machen wollt, dann meldet euch unter organizing-hd@riseup.net
Die „Gig Economy“, zu der auch Lieferdienste wie Lieferando gezählt werden, bezeichnet eine Branche in der Arbeitsaufträge an Freiberufler, geringfügig Beschäftigte und Selbständige vergeben werden.
Die Unternehmen, wie Lieferando, Amazon, Airbnb oder Uber, dienen als Vermittler zwischen Kunden und Auftragnehmern.
Die Vermittlung verläuft über Onlineplattformen, daher auch der Begriff Plattformökonomie.
Sie etablieren digitale, hochskalierbare Geschäftsmodelle, die unbegrenzt Arbeitskraft und Restaurants vermitteln können und immer attraktiver für Kunden werden.
Nach dem Prinzip „ich bin auf Facebook weil praktischerweise auch alle anderen da sind“, funktionieren auch die digitalen Unternehmen.
Je mehr Restaurants auf einer Plattform sind, umso attraktiver wird sie für Kunden und Arbeitnehmer*innen.
Es geht bei diesen Unternehmen (wie Lieferando) erst um Wachstum und das Erreichen einer Monopolstellung.
Gewinne schütten diese Unternehmen erst aus, wenn sie eine Monopolstellung auf dem Markt erreicht haben.
Das lässt sich auch sehr gut bei Lieferando erkennen, welche erst Gewinne machten, als es keine Konkurrenz mehr gab.
Diese Gewinne kommen natürlich nicht von irgendwo, sondern passieren auf Kosten der Angestellten.
Mehr Zeit haben, nicht Kochen müssen und sich sofort alles liefern lassen können, ist nur eine Seite der Medaille.
Statt Arbeitgeber*innen ähneln die Unternehmen aber eher Logistik-Riesen, die Arbeitskraft vermitteln.
Dabei werden die Arbeitnehmer*innen auf Abstand und die Verantwortung gegenüber dem beschäftigten Personal gering gehalten.
Das Risiko tragen die Beschäftigten oft selbst. Neben ihrer angebotenen Arbeitskraft stellen sie das Arbeitsmaterial, wie Fahrräder und Mobiltelefone, und zahlen die Rechnungen und Reparaturen selbst.
Die Angestellten können in ihrem Status als selbständig Beschäftigte nicht auf bezahlte Urlaubs- und Krankentage zurückgreifen und Sozial- und Krankenversicherung müssen selbst übernommen werden.
Aus der Unsicherheit herausd genügend Aufträge bekommen, fahren Beschäftigte auch bei Krankheit die Waren aus.
Immer, aber auch besonders in Zeiten von Corona, sind die genannten Bedingungen alles andere als menschenwürdig.
Auch arbeitsrechtlich sind die Bedingungen mehr als dürftig.
Nach Definition der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), sind jene prekär beschäftigt, die nur zum Teil unter arbeitsrechtlichem Schutz stehen, die wenig Einfluss auf die Gestaltung ihrer Arbeit haben, die nur geringe Arbeitsplatzsicherheit genießen und grundsätzlich aus ihrer Arbeit nicht ihre materielle Existenz sichern können.
Der Trend zu befristeten Arbeitsverträgen, Kurzzeitverträgen und prekären Beschäftigungen ist nicht neu und bei weitem nicht nur mustergültig für die Plattformökonomie.
Er trifft jedoch auf die Lieferbranche in besonderer Weise zu.
Orry Mittenmayer, selbst lange in der Lieferbranche tätig, wendet sich mit seiner Kampagne „Liefern am Limit“ gegen erniedrigende Arbeitsbedingungen, die er und seine Arbeitskolleg*innen nicht länger unhinterfragt hinnehmen wollen.
Nach dem Motto „was die können, können wir auch“, startete er in Köln 2017 mit seinen Kolleg*innen eine Kampagne gegen Deliveroo.
So wie im öffentlichen Raum, in den Straßen, an den Bushaltestellen, die Werbeplakate von Deliveroo unübersehbar waren, so unübersehbar sollten auch die sein, die unter miesen Arbeitsbedingungen das Essen ausfahren.
Als große Gruppe vereint, organisierten Rider*innen mehrmals Demonstrationen, um gegen Deliveroo und Foodora anzugehen.
Schwierig war am Anfang schon allein alle zusammen zu bekommen.
Durch große Liefergebiete und verschobene Schichten, sahen sich die Rider*innen im Arbeitsalltag kaum.
Mit der wachsenden Bewegung schafften sie es im Anschluss viele Demonstrationen zu organisieren, an denen auch unterschiedliche Fraktionen beteiligt waren, wie die “Aktion gegen Arbeitsunrecht” und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGGs).
Auch Kunden wurden mobilisiert, und schlossen sich solidarisch auf der Straße und online mit tausenden Kommentaren auf den Seiten des Liefermoguls an.
Das erste Ziel war es, einen Betriebsrat zu gründen und in die Öffentlichkeit zu treten.
Die Gründung des Betriebsrats war schwierig, der Arbeitskampf wurde bald nach seiner Gründung weiter erschwert.
Zum einen ließ Deliveroo die befristeten Verträge der Angestellten nach und nach auslaufen. Die Angestelltenverhältnisse wurden in Freelancer Verträge umgewandelt.
Orry Mittenmayer zog daraufhin vor Gericht um einen Präzedenzfall durchzufechten und aus Prinzip um seinen Arbeitsvertrag zu kämpfen, damit es anderen nicht wieder und weiter so geht.
Die nächste Hürde bestand in der Rechtslage.
Für die Plattformökonomie gibt es nur unklare rechtliche Begriffe.
Es stellt sich zum Beispiel die Frage was genau „der Betrieb“ ist, für den sich der Betriebsrat gründet.
Was bedeutet das bei Deliveroo und nun bei Lieferando? Wer ist alles Teil dieser Maschinerie?
Das gesamte Liefergebiet mit allen Beschäftigten oder nur die Zentrale in Berlin?
Die Begriffe sind zwar unscharf, auch zum Teil die rechtliche Lage, und doch gibt es arbeitsrechtliche Richtlinien auf die zurückgegriffen werden kann.
Bewährt hat sich auch öffentliches Interesse, Demonstrationen, Solidarische und Direkte Aktionen.
Wer meint, an dieser Stelle gäbe es nichts auszufechten und es sei nichts zu ändern, außer weiter zu bestellen, wird hier auf Solidarität und erkämpfte Veränderung verwiesen.
Orry Mittenmayer kämpft mit „Liefern am Limit“ weiter um faire Löhne und Schichtpläne, Pausen, Arbeitsmaterial, Verschleißpauschalen und menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Dinge, die selbstverständlich sein sollten. Dinge die festgehalten werden sollten, denn die Lieferbranche und Plattformökonomie wird es länger geben, nur die Verträge werden kürzer. Ausliefern bedeutet nicht, ausgeliefert zu sein.
Mehr Infos auf Facebook und Instagram unter „Liefern am Limit“.